Im Himalaya vermitteln ein Zahnarzt aus Thüringen und Kollegen aus ganz Deutschland, wie Zahnpflege funktioniert. Wegen der Pandemie konnten die Helfer erst jetzt wieder nach Nordindien reisen. Dieses Mal wurden sie von Nachwuchsmedizinerinnen unterstützt.
Auf 4.000 Metern Höhe leistet eine 12-köpfige Gruppe in der nordindischen Himalaya-Region Ladakh zahnmedizinische Hilfe: Drei Mediziner, drei Zahnmedizin-Studentinnen und weitere Helfer sind in den vergangenen Wochen auf beschwerlichen Wegen in entlegene Bergdörfer gereist, um vor Ort für bessere Zahngesundheit zu sorgen. Alles unter der Leitung vom Wasunger Zahnarzt Maik Wieczorrek.
700 Bürsten im Gepäck
Mit zahntechnischen Geräten, Instrumenten und über 700 Zahnbürsten in den Koffern startet die Gruppe vor zwei Wochen am Flughafen Frankfurt. In Ladakh wollen sie zahnmedizinische Hilfe zur Selbsthilfe leisten, denn in den Dörfern der Region „Trans-Sengela-Area“ gibt es keine Zahnärzte. Wieczorrek ist seit 2004 in der Region engagiert und hat 2010 dafür auch den Verein „Ladakhpartners-Partnership Local Doctors“ gegründet. Mittlerweile hat der Verein 60 Mitglieder auf ganz Deutschland verteilt.
Auch in diesem Jahr führt die Reise der Gruppe zunächst über die Megastadt Neu-Dehli nach Leh. Die Stadt im indischen Bundestaat Jammu und Kashmir liegt in einer Hochwüste – auf über 3.500 Metern Höhe. Sie gehört zu den höchsten Städten der Welt. Nach fünf Tagen Aufenthalt zur Akklimatisierung startet der Hilfseinsatz per Jeep über Schotterpisten, die aus Steilhängen herausgesprengt wurden, zu den Bergdörfern. „Noch Jahre zuvor mussten die gefährlichen Trampelpfade beschwerlich zu Fuß bewältigt werden“, erinnert sich Maik Wieczorrek, „mittlerweile baut die indische Regierung Straßen und die Stromversversorgung aus.“
Auf ihrer Fahrt überqueren die zwei Jeeps den 5.000 Meter hohen Sengela-Pass. Das erste Ziel ist das Dorf Yulchung. Auf dem Dorfplatz werden Stühle, Tische und ein Behandlungsstuhl aufgebaut. Die provisorische Freiluftpraxis steht. Zahlreiche Ladakhis warten jetzt auf Hilfe.
Amchi-Ärzte sichern Versorgung
In den Bergdörfern sind für alle medizinischen Fragen sogenannte Amchis zuständig. Sie sind Naturärzte, die nach traditioneller tibetischer Medizin behandeln. Die „Amchi-Heilkunde“ wird traditionell vom Vater zum Sohn weitergeben, seit ein paar Jahren ist sogar ein Studium möglich. Die Regionalregierung hat das Potenzial der Naturärzte erkannt und sie den normalen Ärzten gleichgestellt. Ihre Diagnosen stellen die Amchis mittels einer „Pulsdiagnose“. Ist der Befund klar, wird Kräutermedizin zusammengemischt, in Papier verpackt und darauf der Einnahmezeitraum notiert.
Nur gegen Zahnprobleme ist kein Kraut gewachsen, deshalb hilft oft nur das Ziehen der schmerzenden Zähne oder Bohren mit anschließender Füllung. Seit 2004 bringt Maik Wieczorrek aus seiner Wasunger Praxis Solarbohrer, Füllmaterial, Anästhesiespritzen und Zahnbürsten nach Indien. Er hilft, den Bedarf zu stillen: Jeder Amchi in den insgesamt sechs Dörfern der „Trans-Sengela-Area“ ist mittlerweile damit ausgerüstet und geschult und kann so ganzjährig seine Mitmenschen behandeln.
Von einem Ort zum nächsten
Nach einer Nacht im Zelt geht die Reise weiter nach Nyerak, wieder am Steilhang im Zickzackkurs über Schotterpisten ohne Leitplanken entlang. Ist der Fluss Zanskar und die Brücke im Tal erreicht, geht es wieder den Berg hinauf. Mehrere hundert Höhenmeter mit brüchigen, schroffen Gebirgsflanken werden überwunden. Angekommen heißt es, erneut Zelte aufbauen, die medizinische Ausrüstung in das Dorfgemeinschaftshaus bringen und loslegen.
Die Corona-Pandemie hat das Reisen in den vergangenen drei Jahren unmöglich gemacht. Wieczorrek konnte die Bergdörfer nicht besuchen. Entsprechend schlecht war die zahnmedizinische Versorgung der Bewohner.
Studentinnen neu im Team
Neben den erfahrenen Ärzten Wieczorrek, Carsten Neumann aus Cottbus und Erich Nippel aus Bielefeld sind diesmal auch drei Studentinnen der Zahnmedizin mitgereist: Paula Meiringer, Pavla Snajdrova und Lena Neumann stecken eigentlich gerade mitten im Studium. Phyllis Mayer hat vor ein paar Tagen ihr Studium beendet. Sie sind über den zahnmedizinischen Austauschdienst auf Wieczorreks Hilfsverein gestoßen. Schon früher begleitete die 27-jährige Lena Neumann ihren Vater Carsten zu Hilfseinsätzen – jetzt behandelt sie zum ersten Mal selbst. „Es macht großen Spaß, die Hilfe kommt hier echt an und wird dringend gebraucht. Man sieht leider, dass lange kein Zahnarzt hier war“, stellt die Zahnmedizinstudentin aus Cottbus fest.
„Die Hilfe kommt hier echt an und wird dringend gebraucht.“ Lena Neumann
Nach einer weiteren verregneten Zeltnacht und kühlen Temperaturen erreicht das Helferteam den 500-Einwohnerort Lingshed. Die Amchiklinik im Dorf wird hier zur Zahnarztpraxis. Drei Tage lang werden die Bewohner vom Kind bis zur Seniorin behandelt – so gut es eben unter den Bedingungen und den technischen Möglichkeiten geht. Vor der Kliniktür, auf Teppichen, lernen die Patienten auch das Zähneputzen.
„Das ist das wichtigste, um Zahnschäden zu vermeiden. Das Thema Zahnprophylaxe spielt leider im Leben der Ladakhis keine große Rolle“, weiß Lena Neumann. In den sechs Dörfer werden auf der Reise über 700 Zahnbürsten und Zahnpaste verteilt.
Auf Praxistauglichkeit wird in Lingshed auch ein mobiles Röntgengerät getestet. Es wurde in Delhi von Spendengeldern gekauft. Der Test vor Ort verläuft erfolgreich: „Das Gerät funktioniert ähnlich eine Sofortbildkamera. Mit den Bildern kann man jetzt gezielt Behandlungsentscheidungen treffen“, freut sich Vereinschef Wieczorrek.
„Wir verstehen uns sehr gut, weil alle gut Englisch sprechen und wir bleiben über Social-Media in Kontakt.“ Lena Neumann
Vor Ort ist in diesem Jahr auch Tundup Lamo teil. Die 21-jährige Amchistudentin und ein weiterer Student der Amchiheilkunde werden vom Verein unterstützt. Die angehenden Zahnärztinnen haben den Kontakt mit den gleichaltrigen Naturärzten aufgenommen.
„Wir verstehen uns sehr gut, weil alle gut Englisch sprechen und wir bleiben über Social-Media in Kontakt“, erzählt Lena Neumann. Sehr zur Freude von Maik Wieczorrek: „Das ist ein glücklicher Umstand, weil das Projekt auch die nächsten Jahrzehnte weitergeführt werden soll.“
Zum Abschied der diesjährigen Reise überreichen die Amchis allen Mitreisenden Dankesbriefe zur 20-jährigen Zusammenarbeit zwischen den Naturheilern und den Schulmedizinern. „Im Lauf der Jahre haben sich tiefe Freundschaften zu den Amchis und den Wegbegleitern vor Ort gebildet. Ohne diese enge Verbundenheit wäre all das gar nicht möglich“, so der Zahnarzt auf dem Dach der Welt.